Das Landessozialgericht NRW hat in einem Urteil vom 22.02.2018 (Az. L 5 KR 537/17) die Frage, ob eine einschränkende höchstrichterliche Auslegung eines OPS-Kodes durch das BSG seitens der Krankenkassen auch rückwirkend auf Fälle aus der Vergangenheit angewendet werden kann, zu Gunsten der Kostenträger beantwortet.
Das BSG hatte in seinem Urteil vom 23.6.2015 (Az. B 1 KR 21/14 R) festgestellt, dass der OPS 8-550 geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung nur bei Patienten abrechenbar sei, die mindestens das 60 Lebensjahr erreicht haben. Diese starre Altersgrenze ergab sich aus dem Wortlaut des OPS, der ja eigentlich nach ständiger Rechtsprechung streng nach dem Wortlaut auszulegen ist, gerade nicht und wurde auch bis heute nicht durch das DIMDI aufgenommen. Das BSG hatte zur Begründung u.a. auf Wikipedia (!) Bezug genommen, obwohl z.B. das DRG-Kompetenzteam Geriatrie (DKGER) sowie verschiedene Fachgesellschaften ausdrücklich darauf hingewiesen haben, dass aus medizinischer Sicht eine Einordnung als geriatrischer Patient nicht allein am Lebensalter festzumachen ist, sondern immer eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen ist.
Die Krankenkassen nutzten dieses Urteil dann in der Folge, um in ihren Datenbanken nach sämtlichen unverjährten Fällen zu suchen, in denen der OPS bei unter 60-jährigen Versicherten zur Abrechnung gekommen war, und forderten die hierauf entfallenden Erlöse von den Krankenhäusern zurück bzw. verrechneten diese mit unstrittigen Fällen.
Im vom LSG NRW entschiedenen Fall aus dem Jahr 2012 ging es um einen 53-jährigen Patienten der nach einem Sturz mit Femurfraktur behandelt wurde. Aus dem Tatbestand des LSG lässt sich leider nicht erkennen, inwieweit hier weitere geriatrietypische Einschränkungen vorlagen. Das LSG bestätigte dann die Auffassung der Vorinstanz, wonach das Krankenhaus verpflichtet sei, die Behandlungskosten anteilig zu erstatten. Zum einen sei das BSG befugt, den Begriff „geriatrisch“ im Hinblick auf die Abrechnungsregeln selbst zu definieren. Zum anderen ließ das LSG die Einwände des Krankenhauses, wonach die Entscheidung des BSG aus dem Jahr 2015 aus Gründen des Vertrauensschutzes nicht rückwirkend auf Abrechnungsfälle vor diesem Urteil angewendet werden dürfe, nicht gelten. Es handele sich nicht um eine grds. verbotene echte Rückwirkung, sondern es liege in der Natur der Sache, dass die richterliche Bewertung von Sachverhalten immer erst rückschauend erfolgen könne. Es habe auch keine gefestigte Rechtsprechung bestanden, nach der der OPS auch bei unter 60-jährigen anzuwenden sei. Eine Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass die ICD- und OPS-Kataloge jährlich durch das DIMDI neu festgelegt werden und es sich insoweit bei dem DRG-System um ein lernendes System handelt, bei dem Fehlentwicklungen kurzfristig durch entsprechende Änderungsanträge umgesetzt werden können, fand nicht statt. Schließlich komme auch keine Verwirkung analog der vom BSG für die Korrektur von Krankenhausabrechnungen durch die Krankenhäuser entwickelten Grundsätze in Betracht. Auch im Übrigen lagen die allgemeinen Voraussetzungen für eine Verwirkung nicht vor.
Die Revision wurde nicht zugelassen, wobei auch nicht davon auszugehen ist, dass der 1. Senat des BSG diesen Fall abweichend entscheiden würde.
Das Urteil verdeutlicht einmal mehr die Risiken, die sich aus der Rechtsprechung des BSG im Bereich der Krankenhausabrechnung für die Krankenhäuser ergeben: Wenn strittige Auslegungsfragen zu einzelnen Abrechnungsbestimmungen durch die höchstrichterliche Rechtsprechung letztlich zu Lasten der Krankenhäuser entschieden werden, besteht die Gefahr, dass im Massengeschäft der stationären Vergütung damit dann tausende noch nicht verjährte Abrechnungen rückwirkend angepasst werden müssen und die Krankenhäuser empfindliche finanzielle Einbußen hinzunehmen haben. Aktuellstes Beispiel ist die erweiternde Auslegung der halbstündigen Transportentfernung des OPS 8-981 bzw. 8-98b durch das BSG (Urt. v. 19.06.2018, Az. B 1 KR 38/17 R und 39/17 R). Die Rückforderungen einzelner Kassen in Bezug auf derart erlösrelevante OPS erreichen dann schnell existenzbedrohende Ausmaße – von den zukünftigen Auswirkungen auf die medizinische Versorgung bei Wegfall entsprechender Angebote mangels Vergütung einmal abgesehen.
