Das Bundessozialgericht (BSG) hält nicht länger an seiner früheren Rechtsprechung zur Erprobung noch nicht anerkannter Methoden fest und ermöglicht damit „individuelle Heilversuche“ im Rahmen einer Krankenhausbehandlung.
Bisher verlangte der Senat für den Anspruch Versicherter auf Krankenhausbehandlungen außerhalb von Erprobungsrichtlinien unter Verweis auf das Qualitätsgebot gemäß § 2 Abs.1 S.3 SGB V einen vollen Nutzennachweis im Sinne eines evidenzgestützten Konsenses der großen Mehrheit der einschlägigen Fachleute. Mit Urteil vom 25.03.2021 (Az. B 1 KR 25/20 R) legte das BSG nun eine Kehrtwende hin und betonte, dass – entgegen seiner früheren Rechtsprechung – § 137c Abs. 3 SGB V eine partielle Einschränkung des allgemeinen Qualitätsgebots darstelle. Allerdings sei die Regelung mit Blick auf das Qualitätsgebot restriktiv auszulegen.
Das BSG entschied zugunsten der Klägerin, dass Versicherten unter drei Voraussetzungen vor Erlass einer Erprobungsrichtlinie ein Anspruch auf die Versorgung mit Potentialleistungen im Rahmen eines „individuellen Heilversuchs“ zustünde. So müsse (1.) eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung vorliegen sowie (2.) keine andere Standardbehandlung verfügbar sein und (3.) die einschlägigen Regelungen der Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses für die Annahme des Potentials einer erforderlichen Behandlungsalternative erfüllt sein.
Die Beteiligten stritten um die Erstattung der Kosten zweier Liposuktionen. Das Sozialgericht Würzburg (Urt. v. 20.06.2017 – S 6 KR 541/16) hat die Klage der Patientin auf Kostenerstattung zunächst abgelehnt, ebenso das Bayerische Landessozialgericht (Urt. v. 27.11.2018 – L 20 KR 525/17) die Berufung, da die stationäre Liposuktion nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung zähle.
Die Klägerin rügte mit ihrer Revision einen Verstoß gegen § 137c Abs. 3 S. 1 SGB V sowie Art. 3 Abs. 1 GG. Demnach dürfen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, zu denen der Gemeinsame Bundesausschuss bisher keine Entscheidung nach Absatz 1 zur Erprobung getroffen hat, im Rahmen einer Krankenhausbehandlung angewandt und von den Versicherten beansprucht werden, wenn sie das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative bieten und ihre Anwendung nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt, sie also insbesondere medizinisch indiziert und notwendig ist.
Das Bayerische Landessozialgericht wird nun, nachdem das BSG das Urteil aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an das Bayerische Landessozialgericht zurückverwiesen hat, zu prüfen haben, ob die aufgestellten Voraussetzungen im konkreten Fall erfüllt waren.
RA Prof. Dr. Bernd Halbe
Fachanwalt für Medizinrecht
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