Das Amtsgericht Neu–Ulm (AG Neu-Ulm, Urteil vom 26.06.2024 -2 Ls 106 Js 10145/22-) hat im Sommer dieses Jahres in einer Strafsache eine Entscheidung getroffen, die bei Vertragsärzten, die einer Plausibilitätsprüfung durch die zuständige Kassenärztliche Vereinigung unterzogen werden, zukünftig noch für zusätzliches Kopfzerbrechen sorgen könnte. Die Plausibilitätsprüfung, ohnedies bereits eine unangenehme Maßnahme im Arbeitsalltag eines Vertragsarztes, hat durch das Urteil des Amtsgerichts eine neue Qualität bekommen, denn das erkennende Gericht hat den betroffenen Vertragsarzt zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt, weil er Leistungen ohne die erforderlichen Dokumentationen abgerechnet und später „ergänzt“ hatte.
Die Details: Dem Vertragsarzt war durch die Kassenärztliche Vereinigung die Genehmigung zur Erbringung und Abrechnung von Leistungen der psychosomatischen Grundversorgung gemäß GOP 35100 und 35110 EBM erteilt worden. Der Vertragsarzt, der als Facharzt für Allgemeinmedizin zur vertragsärztlichen Versorgung in Einzelpraxis zugelassen ist, hatte in den Quartalen I/2019 bis III/2020 in insgesamt 7016 Fällen die GOP 35100 EBM gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung abgerechnet. Obligater und damit stets zu erfüllender Leistungsinhalt der GOP 35100 EBM, der die differentialdiagnostische Klärung psychosomatischer Krankheitszustände vergütet, ist das Anfertigen eines schriftlichen Vermerks über die ätiologische Zusammenhänge.
Als im Rahmen einer Plausibilitätsprüfung entsprechende schriftliche Vermerke zu einzelnen Patienten, bei denen Leistungen nach der GOP 35100 EBM abgerechnet worden waren, durch die Kassenärztliche Vereinigung angefordert wurden, ergänzte der Vertragsarzt nachträglich die betreffenden Dokumentationen mit frei erfundenen Anamneseprotokollen und Behandlungen, um damit den tatsächlich nicht erfüllten Leistungsinhalt vorzutäuschen.
Das Amtsgericht hat ihn deshalb wegen Betruges in 7 Fällen (7 Quartale waren betroffen) sowie der Fälschung beweiserheblicher Daten in fünf Fällen (nachträgliche Manipulation der Dokumentationen) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt. Zur Begründung verweist es auf den Wortlaut der sog. Sammelerklärung, mit der der die Abrechnung des jeweiligen Quartals einreichende Vertragsarzt bestätigt, alle Leistungen ordnungsgemäß und entsprechend den gesetzlichen und vertraglichen Bestimmungen erbracht zu haben. Diese Sammelerklärung -die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Vertragsarztrecht eine Garantiefunktion besitzt- habe der Verurteilte wahrheitswidrig abgegeben, weil er um die fehlende Dokumentation und den dadurch nicht erfüllten Leistungsinhalt der GOP 35100 EBM wusste.
Hierdurch sei die Kassenärztliche Vereinigung getäuscht und veranlasst worden, dem Vertragsarzt die von ihm abgerechneten Leistungen vollumfänglich und ungekürzt zu honorieren, obwohl die GOP’en wegen der fehlenden Dokumentationen nicht abrechnungsfähig gewesen seien. Infolgedessen sei der Kassenärztlichen Vereinigung ein Schaden von insgesamt 96.350 Euro entstanden.
Zudem habe er sich der Fälschung beweiserheblicher Daten schuldig gemacht, indem er nachträglich einzelne Dokumentationen mit frei erfundenen Anamneseprotokollen und Behandlungen versehen hat.
Der Fall, bei dem noch nicht absehbar ist, ob er weitere Kreise bei anderen, auch höheren Gerichten zieht, macht deutlich, dass Vertragsärzte, die fehlerhafte Abrechnungen einreichen, nicht nur Gefahr laufen, im Falle einer nachträglich durchgeführten Plausibilitätsprüfung Honorar zurückzahlen zu müssen. Sie müssen unter Umständen auch gewärtigen, das belegt das rechtskräftige Urteil nachdrücklich, dass die Kassenärztliche Vereinigung ein Strafverfahren in Gang bringt, an dessen Ende eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe stehen kann.
RA Stefan W. Kallenberg
Herr Kallenberg hat vor seinem Eintritt in die Kanzlei in verschiedenen Funktionen im Arbeits- und Sozialrecht gearbeitet, so zunächst in der Rechtsabteilung einer international tätigen Unternehmensberatung mit dem Schwerpunkt der Rechtsberatung zu Fragen der betrieblichen Altersversorgung.
Mitte der 1990’iger Jahre wechselte er als stellvertretender Justitiar zur Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, um dann ab der Jahrtausendwende deren Bezirksstelle in Köln als Verwaltungsdirektor und Geschäftsführer zu leiten.
In den 27 Jahren seiner Tätigkeit für die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein ist Herr Kallenberg zu einem Kenner jener Rechtsfragen geworden, die sich mit den Aufgaben einer Kassenärztlichen Vereinigung verbinden: Sicherstellung, Gewährleistung und Interessensvertretung vertragsärztlicher Tätigkeit im System der gesetzlichen Krankenversicherung. Hier liegt auch der Schwerpunkt seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt in der Kanzlei Dr. Halbe Rechtsanwälte.